Autor*in

Manja Liehr

veröffentlicht am

27.04.2025

Die unsichtbare Verbindung: Omas, Mütter, Töchter und das mitochondriale Band

Wir tragen es in uns, jede von uns: Ein Band, das sich durch Generationen spannt, weitergegeben von Mutter zu Tochter, von Großmutter zu Enkelin.
Unsichtbar für das bloße Auge, aber nachweisbar unter dem medizinischen Mikroskop: die mitochondriale DNA, kurz mtDNA.
Dieses Erbe unserer Ahninnen begleitet uns in jeder Zelle unseres Körpers, in den Neuronen unseres Gehirns, in den Fasern unserer Muskeln, in unserem Herzen.
Was macht dieses Band mit uns? Warum fällt uns die Ablösung voneinander so schwer?
Und ist es vielleicht eine generationale Aufgabe einer jeden Frau, sich von diesem unsichtbaren Gummiband zu lösen, wohlwissend, dass die Verbindung dennoch bleibt?
Die mtDNA ist einzigartig. Sie wird ausschließlich über die Mutter weitergegeben, während die DNA aus Zellkernen von beiden Elternteilen stammt.
Unsere mitochondriale Erbfolge ist ein uralter, roter Faden, der uns mit den Frauen verbindet, die vor uns kamen. Eine Verbindung, die wir oft nur spüren, wenn sie uns herausfordert: in der Abgrenzung von der Mutter, in den Konflikten mit der Tochter, im stillen Verständnis zwischen Großmütter und Enkelinnen.
Es ist ein Paradoxon: je stärker wir uns entfernen, desto stärker ist die Rückkraft. Wie ein Gummiband, das zurückschnellt.

Ist es unser aller Aufgabe, diesem Band mehr Bedeutung zu geben, als wir es tun?

Die Forschung von Rebecca Cann, Mark Stoneking und Allan Wilson aus den 1980er Jahren hat gezeigt, dass alle Menschen auf eine gemeinsame Ahnin zurückzuführen sind: die mitochondriale Eva.
Eine einzige Frau, die vor rund 150.000 bis 200.000 Jahren lebte und deren mitochondriale DNA bis heute in uns fortbesteht.
Ihre Existenz bedeutet nämlich, dass wir alle miteinander verbunden sind, egal welche Hautfarbe, Herkunft oder Sprache wir haben. Es gibt zwar Mutationen dieser DNA, die Rückschlüsse auf geografische und zeitliche Verortungen skizziert aber im Grunde derselben Mito-Mutti entspringt.

Unser aller Ursprung. Eine Sensation für die Wissenschaft und eine tiefere Wahrheit für uns Frauen: Schwesternschaft ist keine neue Idee, kein bloßer postfeministischer Diskurs, sondern unsere Natur.

Diese Verbindung birgt aber auch Widerstände. Der Wunsch nach Eigenständigkeit, nach Abgrenzung, ist so alt wie unsere genetische Verknüpfung selbst.

Jede Tochter muss sich von der Mutter lösen, muss kämpfen, um sich selbst zu definieren. Und doch kehren wir immer wieder zueinander zurück.
Die Sichtbarkeit in einer maternalen Ahninnenlinie zu fordern, ist ein Recht, aber auch eine Herausforderung.

Denn wie findet man seinen eigenen Platz, wenn die anderen bereits in einem sind?

In meiner eigenen Familie sehe ich dieses Muster: Die Kraft meiner Großmutter, die Resilienz meiner Mutter, meine eigene Suche nach einem eigenen Weg, und nun meine Tochter, die sich mit der gleichen Entschlossenheit behauptet. Sie trägt die mtDNA unserer Ahninnen in sich, doch sie ist nicht nur das Produkt der Vergangenheit. Sie wird ihren eigenen Pfad gehen, auch wenn dieser sie manchmal von mir wegzuführen scheint.

Genauso wie wir als FLINTA* zusammengehören, so verbindet uns auch unsere mitochondriale Erbfolge. Hunderttausendmütter ist nicht nur eine Kampagne, sondern ein Ausdruck dieses tiefen Verbundenseins. Wir stehen gemeinsam ein für Gleichwürdigkeit, für Gleichstellung – oder sogar für eine notwendige Besserstellung, um endlich zu einer echten Angleichung zu kommen. Wir brauchen einander, weil wir einander sind. Ob wir wollen oder nicht.

Lasst uns dieses Erbe sorgsam behandeln. Es in die Ebenen und Räume tragen, die es verdient.
Lasst uns Schwestern sein, in all unserer Unterschiedlichkeit und Einheit zugleich.
Denn in uns allen schwingen die Echos derer, die vor uns waren – und die Stimmen derer, die nach uns kommen werden.
Für unsere Mütter. Für unsere Töchter. Für uns alle.
von Türkân Deniz-Roggenbuck
Illustration @ Jasmin Keune-Galeski – Danke, liebe Jasmin! ❤️

 

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